Artikel, Kolumnen und Essays für Zeitungen (Handelszeitung, NZZ) und Zeitschriften (DU, Das Magazin, Avenue, Marmite, Merum, Vinum) sowie Beiträge für Ausstellungskataloge.
Geschmack, Systematik und Innovation. Zur Geschichte der haute cuisine
Avenue – Das Magazin für Wissenskultur, Dezember 2017.
www.avenue.jetzt/roh_gekocht/haute-cuisine
Schlaraffia
Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung, 2015.
Ein neunzigseitiger Essay über den Traum vom besseren Leben und über die historische Bedeutung und Faszination der Schlaraffenland-Phantasie.
www.vontobel-stiftung.ch
Der Kreativitätswahn
DU, Juni 2008.
Appetit auf Neues? Wie wär’s zuerst mit einem „Nitro-Schaum aus Mais mit schwarzer Trüffelsaftgelatine und Entenleberluft“? Dann mit einem „Panierten Kaninchenhirn mit Matcha-Tee und Demerara-Zucker“? Weiter mit „Gnocchi aus Yamatoimo mit Nelkenschwindlingen und Holunderblüten“? Und zur Abrundung des Auftakts eine „Geräucherte Schneesuppe mit Wintertrüffel-Eischneehaube“? Für den Hauptgang (falls man diesen altmodischen Begriff überhaupt noch verwenden darf) haben Sie die Wahl zwischen „Gebratener Entenbrust mit Schokoladen-Chili-Sauce und Mango-Polenta“, „Steinbock-Crêpe-Köpfchen mit Espresso und Milchschaum“ oder „Kabeljaukutteln mit Curry und Reismehl-Makkaroni an Kokos“. Zum Abschluss noch etwas Süsses? Vielleicht ein „Guanabana-Sorbet mit Kaffeesamen, Zitronenschalenpüree und Minz-Granizado“? Oder ein „Süsses Rehleberparfait auf Kakaoblätterteig mit Süssholz-Sauternes-Birne“?
Bei diesen Essenskreationen handelt es sich nicht um sprachliche Phantasiegebilde aus der Feder eines Dada-Aktivisten oder um Wortkombinationen aus dem Zufallsgenerator. Es sind dies vielmehr die kryptischen Bezeichnungen für „normale“ Speisen von gefeierten zeitgenössischen Avantgarde-Kochkünstlern. Auch wenn man sich als Gast meist nicht vorstellen kann, was man denn da vorgesetzt bekommt, so steht zumindest eines fest: Die kreativen Küchenchefs, die solch ausgefallene und komplizierte kulinarische Werke schaffen, werden in den neuigkeitsversessenen Lifestyle-Magazinen, Feinschmecker-Postillen und Gastroführern euphorisch abgefeiert.
Jeder halbwegs ambitionierte Koch, der sich zu Höherem als zum Mikrowellenoperateur in einer Kantine berufen fühlt, hat sich diesem Kreativitätsimperativ zu beugen, sonst bleibt er unbeachtet und vergessen. Kein Wunder, dass wir heute einer wachsenden Zahl von Köchen begegnen, die sich den Habitus von Künstlern zugelegt haben. Um ihrer Tätigkeit mehr Bedeutung und Glaubwürdigkeit zu verleihen, halten sie es für unerlässlich, sich ihre eigene „Philosophie“ zurechtzimmern und diese selbstbewusst zu verkünden.
Das klingt dann beispielsweise so: „Spannung, Kreativität und vor allem Vergnügen… das sind die Schlagworte, mit denen A. H. seine Kochphilosophie charakterisiert.“ Und: „Essen muss immer spannend bleiben. Der Reiz am Neuen, am Unerwarteten darf nie verloren gehen. Meine Kreationen sollen herausfordernd sein, mein Bauchgefühl und Vertrauen in die Rezepte widerspiegeln.“ Es folgen noch ein paar sprachlich holprige, aber wohlklingende Allgemeinplätze und damit ist das „philosophische“ Gebäude (vielleicht sollte man eher von einer Notunterkunft sprechen) schon errichtet.
Das Neue, das Unerwartete, das Überraschende – das sind auch die Schlagworte in N. M.s Küchenphilosophie, der von sich selbst sagt, er werde für einen der innovativsten Küchenchefs der Welt und als Schöpfer einer vollkommen einzigartigen Küche gehalten. Wenn diese indirekt formulierte Selbsteinschätzung auch nicht gerade von einem unterentwickelten Ego zeugt, so kann man ihm immerhin zugute halten, dass er mit seiner Tätigkeit höhere Ziele verfolgt, denn N. M. wünscht mit jeder einzelnen Zutat nicht nur Emotion, Persönlichkeit und Kultur zu vermitteln, sondern auch mit jedem Gericht einen „special event“ zu erzeugen.
Unangefochtener König, bewunderter Pionier und leuchtendes Vorbild der gastronomischen Kreativgilde ist jedoch zweifellos F. A., der 1994 apodiktisch verkündetet hat: „Wir suchen das Neue, das Unerhörte. Alles andere interessiert uns nicht.“ Sein kreativer Furor hält nun schon seit über zwanzig Jahren an und kann als institutionalisierte und kommerziell wie medial perfekt vermarktete Küchenrevolution bezeichnet werden. So werden etwa die mit seiner Crew entwickelten und realisierten Gerichte – Kunstwerken eines Werkverzeichnisses gleich – nummeriert und inventarisiert (es sind mittlerweile weit über tausend!) und in regelmässig erscheinenden Katalogen bild- und wortreich dokumentiert. „Das Kochen ist eine Sprache, um Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und Kultur zu vermitteln“, lautet der erste Satz der 23 Prinzipien seiner Avantgarde-Küche. Anders formuliert: Das Kochen ist zu einem Kunstmedium mutiert, und der Besuch seines Kultlokals hat den Charakter eines Kunstevents, bei dem der Mund als Hauptwahrnehmungsorgan fungiert.
Nichts, was neu ist, hat nicht auch seine frühen Vorläufer und Wegbereiter. So berichtet Louis-Sébastien Mercier (1740–1814) in seinem erstmals 1781 erschienenen „Tableau de Paris“, dass es in der gehobenen Gesellschaft zu den Attraktionen eines Essens gehörte, Gerichte zu servieren, bei denen weder der Name noch das Aussehen verrieten, was man ass. „Während der Karwoche gibt der König ein Essen, bei dem mit Gemüse alle Fische nachgebildet werden, die man im Meer fängt.“ Doch damit nicht genug: „Man verleiht diesen Gemüsen den Geschmack jener Fische, die sie darstellen.“ Auch wenn noch etliche derartige kulinarische Memorabilien überliefert sind, so handelt es sich doch um Einzelfälle und nicht um Modeerscheinungen.
Erst in den 1960er Jahren wird die Kreativität zum Programm, als sich einige jüngere französische Küchenchefs von Escoffiers gastronomischem Vermächtnis zu distanzieren beginnen. Sie erachten seine überladene und uniformisierte Hochküche als nicht mehr zeitgemäss und praktizieren – jeder auf seine Manier – eine nouvelle cuisine, die sich durch Leichtigkeit, Frische und verspielte Kunstfertigkeit auszeichnet. Im Zuge der medial mitgeschürten Begeisterung für das Neue und der geschickten Selbstinszenierung erlangen viele von ihnen den Kultstatus von gefeierten Stars.
Was mit der nouvelle cuisine begonnen hat, ist mit der in den 1990er Jahren in Mode gekommenen Molekularküche Wirklichkeit geworden: der Ernährungsaspekt des Speisens ist – Ausdruck einer wohlhabenden, übersättigten Gesellschaft – in den einschlägigen Kultlokalen der Kreativgastronomie praktisch bedeutungslos geworden und das Einverleiben der nunmehr zu Häppchen geschrumpften Essenskreationen hat den Charakter eines reinen, alle Sinnesorgane einbeziehenden Kunstgenusses angenommen. Indem sie Lebensmittel nicht mehr in Nahrungs-, sondern in reine Genussmittel verwandelt, hat sich die avantgardistische Molekularküche am radikalsten des einengenden funktionalen Korsett des Kochmetiers entledigt. Wohl nicht zuletzt deshalb werden heute erstmals in der Geschichte der Kochkunst, die ja trotz dieser häufig verwendeten Bezeichnung nie zur Gattung der höheren Künste zählte, die Exponenten der Molekularküche als wahre Künstler gefeiert.
Man mag diese gastronomischen Modetendenzen als dekadent verdammen oder euphorisch begrüssen (im Allgemeinen ist eher letzteres der Fall), Tatsache ist jedoch, dass man mit ihnen mittlerweile nicht nur in einschlägigen In-Lokalen konfrontiert wird, sondern – nicht zuletzt dank dem undifferenzierten Medienapplaus – auch in Gasthöfen und Traditionsrestaurants, in denen ein ambitionierter Chefkoch auf sich aufmerksam zu machen versucht. Kein Zweifel: Herausragende Köche sind – jeder auf seine Art – kreativ (und sind es im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten schon immer gewesen), aber nicht jeder, der sich als kreativ bezeichnet und sich so gebärdet, ist auch ein herausragender Koch.
Der Vergleich mit der Musik drängt sich auf. Wie in der Musik kann man auch in der Kochkunst zwischen Interpreten und Komponisten unterscheiden. Und wie in der Musik gibt es auch im Kochmetier gute und schlechte Interpreten sowie gute und schlechte Komponisten. Doch während in der Musik die Zahl der Interpreten jene der Komponisten um ein Vielfaches übersteigt, glaubt heute beinahe jeder ambitionierte Koch, sich nicht nur als Interpret, sondern auch als Komponist profilieren zu müssen.
Die zweifelhaften Resultate des gastronomischen Kreativitätswahns, denen man landauf, landab begegnet, sind effekthascherische Essensgebilde, die sich mithin wie abstrakte Gemälde oder Skulpturen präsentieren. Doch im Gaumen offenbart sich dann allzu oft die traurige Wirklichkeit: laute, disharmonische Gerichte, in denen unzählige Geschmacksnoten um die Vorherrschaft kämpfen und denen es an dem mangelt, was eine wirklich gute Küche – unabhängig von ihrer Orientierung und Ausrichtung – seit jeher auszeichnet und auch in Zukunft auszeichnen wird: Sorgfältige Auswahl der Produkte, perfekte Zubereitung und geschmackliche Harmonie.
Raymond Oliver, der Besitzer und Chef des legendären Pariser Restaurants „Le Grand Véfour“ war einer der herausragendsten und kultiviertesten französischen Meisterköche der Nachkriegszeit. Er sagte von sich, er habe in seiner gesamten Karriere nur ein einziges neues Gericht erfunden (er schrieb immerhin rund dreissig Kochbücher). Aus dieser Bescheidenheit spricht das Wissen, dass vieles schon einmal dagewesen ist und dass es nur wenigen Köchen gelingt, wirklich Neues zu kreieren. Nur ungebildete Naivlinge und grossmaulige Ignoranten sind davon überzeugt, ständig Neues zu erfinden. In Wirklichkeit kopieren sie nur Altes, ohne sich dessen bewusst zu sein.